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Title
Ukraine and Russia. Representations of the Past


Author(s)
Plokhy, Serhii
Published
Extent
391 S.
Price
€ 57,39
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Martin Aust, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität Kiel

Unter dem Titel „Ukraine and Russia. Representations of the Past“ hat Serhii Plokhy 13 bereits publizierte sowie drei bislang unveröffentlichte Artikel zusammengefasst. Dabei handelt es sich keineswegs um eine Buchbindersynthese im herkömmlichen Sinn. Alle 16 Texte des Buches lösen den Anspruch des Buchtitels ein, gewissermaßen Nutzen und Nachteil der Historie für russische und ukrainische Identitätskonstruktionen zu behandeln. Zudem hat Plokhy sein Material in vier Themenblöcke gruppiert, die dem Buch Gestalt verleihen.

Der erste Teil betrachtet die Wurzeln der Verknüpfung russischer und ukrainischer Umgangsweisen mit der Vergangenheit. Den Anfang machen Ausführungen über die binären Oppositionen imperial und national, fremd und eigen sowie staatlich und ethnisch als Kategorien des politischen Systems wie auch der Historiographie Russlands im 18. Jahrhundert. Daran knüpft die hohe Beteiligung ukrainischer Gebildeter an Identitätsdiskursen im Russischen Reich des 18. Jahrhunderts an. Ukrainer erscheinen hier gleichermaßen als Lehrmeister und Opfer des imperialen Projekts in Russland. Dann wendet Plokhy sich der Geschichte der Ruthenen (Istorija Rusov) zu, die aus dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts stammt, um schließlich die erste Abteilung mit Ausführungen über die ukrainische Ikonographie zu beenden.

Klasse und Nation bilden den Referenzrahmen für die Essays des zweiten Teils. Hier begegnet den Leserinnen und Lesern zunächst der Historiker Mychajlo Hrušev’skyj (1866-1934) politisierend als Nationsbildner in den Jahren 1905 bis 1907. Darauf folgt ein längerer Text über Hrušev’skyjs Interpretation des Abkommens von Perejaslav 1654 zwischen den ukrainischen Kosaken und dem Moskauer Zaren. Von 1654 bis in die Gegenwart gab dieses Abkommen Anlass zu vielfältigem Streit. Nicht zuletzt war die Frage, ob das Abkommen ukrainische Selbständigkeit oder die ewiggültige Unterwerfung der Ukraine unter die Moskauer Zarenherrschaft begründete, wiederholt Gegenstand hitziger Diskussionen. Ihm schließt sich ein Beitrag über die sowjetrussische und sowjetukrainische Geschichtsschreibung in marxistischer Absicht der 1920er und 1930er Jahre an.

Bemerkenswert ist der Abschluss dieses zweiten Teils mit einem Artikel über autobiographische Aufzeichnungen vorwiegend ukrainischer Bauern aus der Südukraine, die aus den 1960er und 1970er Jahren stammen. Plokhy interessiert sich hier vor allem für die Rückprojektion regionaler und nationaler Identitäten in die Zeit von 1914 bis zum Zweiten Weltkrieg. Die Pointe dieses zweiten Themenblocks soll darin liegen, dass der nationalhistoriographische Widerstreit ukrainischer und russischer Historiker vor allem der 1900er und 1910er Jahre mit einer partiell gehörigen Indifferenz gegenüber Identitätskonzeptionen seitens gewöhnlicher Menschen einherging, deren Nationalgeschichten die Historiker zu schreiben beanspruchten.

Im dritten Abschnitt seines Buches führt Plokhy uns zu den postsowjetischen Debatten der 1990er Jahre und der Millenniumswende zurück. Historische Legitimationen territorialer Ansprüche, der russische Sevastopol-Mythos, der anhaltende Dissens über die Bedeutung des Abkommens von Perejaslav 1654 sowie Jalta als Erinnerungsort und Argument in außenpolitischen Diskursen der USA, Polens, der Ukraine und Russlands sind hier die Themen.

Der vierte Abschnitt wendet sich der jüngsten ukrainischen Historiographie in der Ukraine, Russland, Europa und den USA zu und schließt mit einem weit gefassten Desiderat. Die zukünftige Ukraine-Historiographie sieht Plokhy vor der Aufgabe stehen, eine Geschichte jenseits der Nation zu schreiben. Dabei soll die Ukraine als Kontaktraum von Sprachgemeinschaften, Religionen, Kulturen und Zivilisationen dargestellt werden. In dieser Hinsicht schätzt Plokhy das Potential der Ukraine höher ein als das der Geschichten Polens und Ungarns. Zieht man diesen superlativischen Überschuss einmal ab, so liegt einer von vielen Reizen dieses Schlusses darin, die Interaktion der Imperien in der ukrainischen Geschichte und den ukrainischen Anteil an imperialen Projekten zum Thema zu machen. In unnachahmlicher Eleganz ist das Buch auf der letzten Textseite 301 wieder an seinen Ausgangspunkt zurückgekehrt, den ja unter anderen ukrainische Gebildete im Russischen Reich des 18. Jahrhunderts darstellten. Ein Buch über die ukrainische Komponente im Umbau des Russischen Reiches von 1654 bis 1764 wäre eines von vielen Arbeitsvorhaben, die sich aus Plokhys Plädoyer ableiten ließen.

Die Unterteilung der sechzehn Beiträge in vier Blöcke erscheint plausibel. Gleichwohl scheinen durch den Text auch andere Lesarten hindurch. Hetman Bohdan Chmel’nyc’kyj, das Abkommen von Perejaslav 1654 und der Historiker Hruševs’kyj begegnen in mehreren Essays der Themenblöcke Nummer zwei, drei und vier. Sie bilden damit das Zentrum, um das die Ausführungen wiederholt kreisen.

Der Untertitel kündigt Repräsentationen der Vergangenheit als Thema an und weckt damit einen geschichtskulturellen Erwartungshorizont. Sieht man einmal vom Beitrag über die ukrainische Ikonographie ab, hat das Buch jedoch ganz eindeutig einen historiographiegeschichtlichen und geschichtspolitischen Schwerpunkt. Die ästhetische Dimension der Geschichtskultur ist weithin unberücksichtigt. Gerade Historienfilme wie „Bohdan Chmel’nyc’kyj“ (UdSSR 1941), „Mit Feuer und Schwert“ (Polen 1999) und „Gebet für Hetman Mazepa“ (Ukraine 2002) sind lohnenswerte Objekte für Studien konkurrierender Geschichtsdarstellungen. Während der Untertitel mithin mehr verspricht, als das Buch hält, gilt für den Obertitel das Gegenteil: Viele Beiträge zeigen, dass hier nicht allein die Ukraine und Russland in Dissens und Konkurrenz um die Aneignung der Vergangenheit vereint sind. Auch die polnischen Bezüge ukrainischer Geschichts- und Identitätsdebatten berücksichtigt Plokhy wiederholt.

Wer auf der Suche nach systematischen Einführungen in die ukrainische Geschichtskultur und ihre Verknüpfung mit der russischen ist, sei auf andere Arbeiten Plokhys wie auch anderer Historiker verwiesen. 1 Wer sich jedoch berufen fühlt, das erst jüngst wiederholt monierte Desiderat polnisch-ukrainisch-russischer Verflechtungsgeschichten zu erfüllen 2, wird mit Gewinn zu dieser Essaysammlung greifen und von Plokhys Kenntnis der Historiographiegeschichte profitieren.

Anmerkungen:
1 Serhii Plokhy, Unmaking Imperial Russia. Mykhailo Hrushevs’ky and the Writing of Ukrainian History, Toronto 2005; ders., The Origins of the Slavic Nations. Premodern Identities in Russia, Ukraine, and Belarus, Cambridge 2006; John Basarab, Pereiaslav 1654. A Historiographical Study, Edmonton 1982; Serhy Yekelchyk, Stalin’s Empire of Memory. Russian-Ukrainian Relations in the Soviet Historical Imagination, Toronto 2004.
2 Anna Veronika Wendland, Randgeschichten? Osteuropäische Perspektiven auf Kulturtransfer und Verflechtungsgeschichte, in: Osteuropa 58 (2008) 3, S. 95-116, hier S. 104.

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04.09.2009
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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